Stefan Kießling gehört seit Jahren zu den besten deutschen Stürmern, ist in der Nationalmannschaft aber bestenfalls Reservist. Zuletzt zog er einen Schlussstrich, der in Wirklichkeit keiner ist.  

Eigentlich ist Stefan Kießling nicht der Typ Fußballer, der für verbale Pöbeleien bekannt ist. Aber nach dem 4:2-Sieg der Leverkusener gegen Borussia Mönchengladbach am dritten Bundesliga-Spieltag – Kießling hatte überragend gespielt, ein Tor geschossen und eins vorbereitet – gingen mit dem sonst so besonnenen 29-Jährigen ein wenig die Pferde durch. Der Grund: Bundestrainer Joachim Löw hatte beim Spiel auf der Tribüne gesessen. Von Journalisten darauf angesprochen, reagierte Kießling schnippisch: „Ich weiß aber nicht, wen er sich angeguckt hat. Es ist ja sein Job, so etwas zu machen.“

Wenig später postete Kießling auf seiner Facebook-Seite ein Statement: „Es zerrt ziemlich an mir, wenn ich immer wieder über das Thema Nationalmannschaft gefragt werde. Ich möchte eigentlich nur jetzt endlich mal den Druck abnehmen, dass es nicht immer und immer wieder aufkommt.“ Und der „Bild“-Zeitung sagte er: „Ich habe mal gesagt, das Thema ist gegessen. Nun erkläre ich noch mal – den Nationalspieler Kießling wird es unter Löw nicht mehr geben!“

Deutliche Worte, die Kießling wenig später zumindest teilweise relativierte. Dem „Kicker“ sagte er: „Ich komme super damit zurecht, nicht mehr eingeladen zu werden. Ich gehe davon aus, dass ich nicht eingeladen werde, solange der Bundestrainer Joachim Löw heißt.“ Das Tischtuch zwischen Löw und Kießling scheint also zerschnitten zu sein. So ganz will sich Kießling aber noch nicht von dem Gedanken verabschieden, mit der Nationalmannschaft zur Weltmeisterschaft 2014 nach Brasilien zu reisen: „Sollte vor der WM Not am Mann sein und jemand auf die Idee kommen, ich könnte helfen, dann bin ich der Letzte, der eine Mannschaft im Stich lässt.“

Kießlings Stärken: Leistung, Konstanz, Engagement
Bis es so weit ist, will sich Stefan Kießling aber weiterhin voll auf seine Arbeit bei Bayer 04 Leverkusen konzentrieren. Und die läuft in den letzten Jahren hervorragend: In der letzten Saison wurde Kießling mit 25 Toren zum ersten Mal in seiner Karriere Torschützenkönig der Bundesliga, in der Vorsaison waren es 16 Treffer. Und er scheint an seine Leistung anknüpfen zu können; in den bisher drei absolvierten Spielen der laufenden Saison hat Kießling schon zwei Tore geschossen. Insgesamt hat er in 282 Bundesliga-Spielen für Leverkusen und Nürnberg 113 Mal ins Schwarze getroffen.

Hinzu kommt, dass Kießling so beständig seine Leistung abliefert, wie wenige andere Fußball-Profis. In seiner Karriere war er erst zweimal ernsthaft verletzt, in der Saison 2006/2007 fiel er mit einer Muskelverletzung kaum einen Monat aus, in der Saison 2010/2011 fehlte er drei Monate wegen eines Syndesmosebandrisses. Auch Sperren wegen gelber und roter Karten gehören nicht zu Kießlings Lastern; in der letzten Saison kassierte er in 34 Spielen gerade mal eine gelbe Karte. Gelb-Rot sah er in seiner Karriere noch nie, nur in den Spielzeiten 2006/2007 und 2007/2008 hatte er jeweils einmal glatt Rot gesehen.

Der wahre Wert von Stefan Kießling für Bayer Leverkusen geht aber weit über seine sportlichen Leistungen hinaus. Seine Mitspieler schätzen ihn, weil er sich voll in den Dienst der Mannschaft stellt, so ist Kießling nicht von ungefähr Mitglied des Mannschaftsrats. Wie „11Freunde“ kürzlich berichtete, ist er derjenige, der bei Reisen mit der Mannschaft Flugtickets und Hotelzimmer-Schlüssel austeilt. Bei den Mitarbeitern des Vereins sei er zudem sehr beliebt, weil er jeden beim Namen kenne, sich ernsthaft für sie interessiere und auch mal früher zum Training komme, um einen kleinen Plausch zu halten.

Perspektive Brasilien 2014
Zur Saison 2006/2007 war Stefan Kießling vom 1. FC Nürnberg für 6,5 Millionen Euro zu Bayer 04 Leverkusen gewechselt. Nach einigen Startschwierigkeiten wurde er von Teilen der Fans und des Umfelds vorschnell als Fehleinkauf abgestempelt, bevor er sich zwischen 2008 und 2010 zum absoluten Leistungsträger der Werkself mauserte. In den Saisons 08/09, 11/12 und 12/13 absolvierte Kießling jeweils alle 34 Bundesliga-Spiele, im Jahr 09/10 waren es 33. Nur in der Saison 2010/2011, als Kießling gerade von der WM in Südafrika zurück gekehrt war (Löw ließ ihn damals nur insgesamt 24 Minuten spielen), musste er nach einem Tritt von Nürnbergs Andreas Wolf länger aussetzen – am Ende kam er nur auf 22 Liga-Einsätze.

Kießlings direkte Konkurrenten in der Nationalmannschaft heißen Mario Gomez (28) und Miroslav Klose (35), die beiden sind bei Bundestrainer Joachim Löw erste Wahl. Den Vergleich muss Kießling aber nicht scheuen. Nimmt man als Vergleichszeitraum die Spielzeiten 09/10 bis 12/13, kommt Stefan Kießling auf 123 Bundesliga-Spiele, 69 Tore und elf gelbe Karten. Mario Gomez kommt auf 115 Spiele, 75 Tore und fünf gelbe Karten. Miroslav Klose, seit der Saison 2011/2012 bei Lazio Rom unter Vertrag, kommt in dem Zeitraum auf 101 Vereins-Spiele, 31 Tore und zehn gelbe Karten. Gelb-Rot oder Rot sah im Vergleichszeitraum keiner der Stürmer.

Der Umstand, dass die deutsche Nationalmannschaft über Mittelfeldspieler verfügt, die ebenso gut im Sturmzentrum spielen können, macht es Kießling nicht leichter. Und mit Spielern wie Max Kurse (25) von Borussia Mönchengladbach drängen sich weitere Anwärter auf ein Ticket nach Brasilien auf. Ob Kießling bei der WM 2014 dabei sein wird, hängt allein am Bundestrainer. Und der weiß wohl, dass Stefan Kießling der Letzte ist, der eine Mannschaft im Stich lassen würde.